Krasnoturjinsk

Verstecktes Tram-Idyll im Nordural: Krasnoturjinsk

Krasnoturjinsk, Oblast Jekaterinburg
April 2021

Rund 400 Kilometer nördlich von Jekaterinburg, am Ostrand des Ural, befinden sich zwei kleine Straßenbahnbetriebe, die einen geradezu legendären Ruf genießen. Beide bestehen nur aus einer einzigen Linie, die Strecken sind durchweg eingleisig und die Fahrpläne so dünn, dass es ein Wunder ist, dass überhaupt jemand damit fährt. Die Tram in Woltschansk ist momentan wegen Instandhaltungsarbeiten außer Betrieb, die in Krasnoturjinsk dagegen fährt.

Seit Jahren gilt sie als Stilllegungskandidat, hält sich bislang jedoch beharrlich. Zuletzt sollte es ihr 2019 an den Kragen gehen, doch die Schließung konnte noch einmal abgewendet werden. Aus Nischnij Tagil kamen damals zwei gebrauchte KTM-5, die heute den gesamten Einsatzbestand darstellen. Im April 2021 brach ich auf, um mir einen der kleinsten Straßenbahnbetriebe Russlands einmal anzuschauen.

Stele „Krasnoturjinsk“
Etwa 400 Kilometer nördlich von Jekaterinburg liegt Krasnoturjinsk.

Mangels Zeit wählte ich den weniger poetischen Weg der Anreise mit Flugzeug und Bus. Wer es nicht eilig hat, kann auch ab Moskau mit einer Kurswagengruppe des Zugs „Jamal“ bis ins benachbarte Serow fahren. Von dort ist man mit dem Bus in 40 Minuten in Krasnoturjinsk. Der Zug ist allerdings über 33 Stunden unterwegs. Mein Nachtflug mit Ural Airlines nach Jekaterinburg dauerte nur zweieinviertel Stunden, um 4 Uhr am Samstagmorgen war ich dort. Dann wartete allerdings noch eine neunstündige Busfahrt auf mich. Ich hatte mich etwas zu früh gefreut, als ein recht komfortabler Hyundai-Reisebus vorfuhr. In Nischnij Tagil hieß es nach etwa drei Stunden umsteigen. Von dort ging es in einem Minibus der übelsten Sorte weiter.

Traditioneller Industriestandort

Vom Zwischenhalt in Serow rief ich bei der Unterkunft an. „Haben Sie eigentlich einen russischen Pass?“, wollte die Vermieterin wissen. Krasnoturjinsk sei nämlich eine geschlossene Stadt, sie wisse nicht, ob sie mich als Ausländer registrieren könne. Sie erkundige sich und rufe mich zurück. Bis zur Ankunft hatte sie das nicht getan. Unangenehme Erinnerungen an Nowokusnezk kamen auf, als ich wegen meines pandemiebedingt abgelaufenen Visums aus dem Hotel geworfen wurde, trotz entsprechendem Präsidialerlass. Gerade deshalb hatte ich es ja eigentlich vorgezogen, erstmal nur Privatunterkünfte zu buchen. Ich rief nochmal an und hatte Glück. Ich bekam die Wohnung. Falls mich die Polizei aufgable, solle ich jedoch bitte nicht sagen, dass ich dort einquartiert sei. Der Hinweis war nicht wirklich geeignet, mich zu beruhigen.

Bogoslowsker Aluminiumwerk
Keimzelle der Stadt ist das Bogoslowsker Aluminiumwerk.

Aber Hauptsache ich war da. Krasnoturjinsk ist eine typische Industriestadt im rohstoffreichen Ural. Schon im 18. Jahrhundert wurde hier Kupfer abgebaut, später auch Eisenerz und Gold. Es entstanden mehrere Bergarbeitersiedlungen, welche Turjinskije Rudniki genannt wurden, nach dem Fluss Turja. Im benachbarten Bogoslowsk, heute Karpinsk, befand sich vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert eine bedeutende Kupferhütte. In den 1930er Jahren wurden in der Nähe zudem Bauxitlagerstätten entdeckt. Das gab den Anstoß, hier ein Aluminiumwerk zu errichten. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Ausrüstungen weiter westlich gelegener Produktionsstätten hierher evakuiert und 1945 konnte das Werk seinen Betrieb aufnehmen.

Diesem hat die Stadt ihre Existenz zu verdanken. Den heutigen Namen und die Stadtrechte erhielt sie im November 1944. Beim Bau des Aluminiumwerks und der Stadt waren in großem Maße Zwangsarbeiter eingesetzt worden, darunter viele Wolgadeutsche aus der sogenannten Arbeitsarmee. An ihr Schicksal erinnert heute eine Denkmalanlage. Noch immer sind viele Deutschstämmige unter den etwa 56.000 Einwohnern von Krasnoturjinsk.

Weltkriegsdenkmal
Weltkriegsdenkmal im Stadtzentrum

In den 1950er Jahren führten Komsomolzen aus der gesamten Sowjetunion den Bau fort und Krasnoturjinsk wuchs rasant. Dementsprechend ist das Stadtzentrum von der Architektur des Stalin-Klassizismus geprägt. Die Uliza Popowa, auf der die Straßenbahn verkehrt, ist dagegen hauptsächlich von vier- und fünfgeschossigen Plattenbauten aus den 1960ern gesäumt. Am westlichen Stadtrand ist die Turja zu einem See aufgestaut, an dessen Ufer sich das Aluminiumwerk befindet.

Straßenbahn seit 1954

Die Straßenbahn wurde 1954 eröffnet und zunächst von den Aluminiumwerken betrieben. Zuerst entstand die heute noch betriebene Ost-West-Linie vom östlichen Stadtrand zum Aluminiumwerk. Bis 1959 entstand eine zweite Linie, die in Nord-Süd-Richtung entlang des Werksgeländes führte und die erste Linie in der Nähe des Depots kreuzte. Im Süden führte sie zum städtischen Krankenhaus.

Im Jahr 1999 ging die Straßenbahn auf die Stadtverwaltung über. Die zweite Linie wurde 2011 stillgelegt, weil sie bei Bauarbeiten an einer Rohrleitung im Weg war. Im Bereich der Uliza Tschkalowa liegt das Gleis noch. Beide Linien wurden eingleisig angelegt. Auf der heute noch vorhandenen gibt es zwei Ausweichstellen, eine vor dem Depot, die andere in der Nähe der Uliza Karpinskogo.

Das Depot befindet sich an der Kreuzung der Uliza Popowa und der Uliza Frunse. Zunächst wurden Wagen der Reihe KTM-1 aus Ust-Kataw eingesetzt, welche dann ab 1979 durch KTM-5 ersetzt wurden. Im Jahr 2002 bekam der Betrieb vier Spektr von Uraltransmasch aus Jekaterinburg. Die hielten sich jedoch nicht lange und wurden mittlerweile wieder durch gebrauchte KTM-5 ersetzt. Die heute eingesetzten Fahrzeuge kamen 2019 aus Nischnij Tagil. Auf dem Depotgelände stehen noch zwei ausgemusterte Schwesterfahrzeuge. Die Spektr wurden vor einigen Jahren verschrottet.

Nervenkitzel

Da gerade schönes Wetter war, zog ich gleich wieder los, nachdem ich die Wohnungsschlüssel hatte. Die Straßenbahngleise verliefen direkt vor dem Haus in der Nähe des Einkaufszentrums Stoliza. Doch es kam nichts. An der nächsten Haltestelle hing eine Fahrplantafel, die machte jedoch wenig Mut. Ein Teil der Kurse war ausgestrichen. Was blieb, war ein grober 45-Minuten-Takt. Vor zehn Minuten hätte eigentlich eine Bahn in Richtung Aluminiumwerk kommen sollen – und ich stand schon eine gute halbe Stunde an der Strecke. Gab es eine Betriebsstörung? Vielleicht ruhte der Verkehr ganz? Als auch in der Fahrplanlage für die andere Richtung nichts kam, wurde ich ungeduldig.

Der ständig die Straße hin- und herfahrende Polizeibus trug ebenfalls seinen Teil zu meiner Anspannung bei. Ich ging den Gleisen entlang zum nahegelegenen Depot. Dort stand ein Wagen auf dem Hof, zu sehen war niemand. Ich überlegte schon einen Alternativplan, falls wirklich gar nichts laufen sollte hier. Nach Nischnij Tagil vielleicht? Aber erst einmal weiter den Gleisen entlang, irgendwo musste die Tram ja sein, falls die fuhr. Als ich gerade in der Kurve war, wo die Strecke zum Aluminiumwerk abbiegt, kam sie tatsächlich! Natürlich aus der Richtung, aus der ich sie nicht erwartet hatte.

Doch es reichte noch für ein Foto. Sie fuhr tatsächlich, die sagenhafte Tram von Krasnoturjinsk! Wenn auch eine halbe Stunde nach Plan. Oder eine Viertelstunde vor Plan? Die Endhaltestelle war nicht weit, der Wagen musste also bald zurückkommen. So war es dann auch. Ich erwischte ihn noch einmal und konnte dann direkt einsteigen.

Sie fährt – wenn auch selten

Und natürlich gibt es noch Papiertickets von der Rolle hier! Die Fahrt für 20 Rubel. Ich war der einzige Fahrgast. Einen hübschen Wagen hatten sie da aus Nischnij Tagil ergattert, mit blau-roten Holzsitzen. Nach ein paar Haltestellen stieg ich wieder aus, schließlich galt es, eine Fotostelle für die Rückfahrt zu suchen.

Die fand ich in einer Kurve an der Uliza Popowa. So langsam realisierte ich, dass der ausgehängte Fahrplan nicht wirklich eine Bedeutung hatte. Der Wagen kam wieder konsequent 15 Minuten vor der angegebenen Zeit. Zumindest konnte ich so einen Richtwert ermitteln.

Nachdem die Rückfahrt im Kasten war, begab ich mich zu Fuß zum anderen Streckenende. Der östliche Abschnitt hat auf den letzten 600 Metern ein dörfliches Flair. Die Endhaltestelle befindet sich am Ufer der Turja, nachdem diese eine Schleife um die Stadt gemacht hat. Halb idyllisch, halb apokalyptisch präsentiert sich die Ecke dort. Flussufer, Holzhäuser, aber eben auch eine wilde Müllkippe. Das verbogene Blech des Wartehäuschens quietschte im Wind.

Am Sonntag war es eher trüb. Die beste Gelegenheit, um mit Verwandten einer Bekannten aus Moskau die Gegend zu erkunden. Die hatten übrigens noch nie davon gehört, dass Krasnoturjinsk eine geschlossene Stadt sei. Wir waren unter anderem in der Nachbarstadt Karpinsk. Dort gab es auch einmal eine Straßenbahn, die jedoch die 1990er Jahre nicht überlebt hat. Polina und Anton zeigten mir das ehemalige Depot und Gleisreiste. Polina erinnerte sich daran, wie sie mit der Tram einst in den Kindergarten fuhr. Ja in den 1960ern hat es sogar eine Überlandstrecke nach Woltschansk gegeben. Die fiel seinerzeit der Verlegung eines Braunkohlebaggers zum Opfer.

Nach der Rückkehr klarte es auf und mir gelang sogar noch ein abendliches Tramfoto in der Nähe des Depots. Es war wieder derselbe Wagen mit der Nummer 14 im Einsatz.

Vergebliches Warten

Am Montag gab es dann einen tiefblauen Himmel. Ob man sich wohl werktags an den Fahrplan halten würde? Während meines Kaffees ging ich kurz hinunter, um nach der Wagen auf der Fahrt Richtung Osten zu schauen. Doch er ließ wieder auf sich warten. Als er schließlich kam, war der Kaffee fast kalt. Doch ich hatte ein Foto mit dem Aluminiumwerk im Hintergrund. Es war wieder Wagen 14.

Nach dem Kaffee begegnete mir der Wagen auf der Rückfahrt, als ich gerade auf dem Weg zum Einkaufszentrum war. Ich sollte also genug Zeit haben, mir eine Stelle auf der Ostseite zu suchen. Da die Strecke dort leicht nach Südosten verläuft, sollte bis zum frühen Nachmittag Gelegenheit sein, die ostwärts fahrenden Kurse mit Sonne abzulichten.

Soweit die Theorie. Ich fand eine hübsche Stelle, gerade dort, wo der dörfliche Abschnitt anfängt. Doch es kam wieder einmal nichts. Lange nichts. So lange, dass die Sonne auf die andere Seite wanderte. Das Motiv war also durch. Also beschloss ich, wie zwei Tage zuvor, einfach den Gleisen entlang zu laufen. Irgendwo musste der Wagen ja sein.

Als ich nach einer halben Stunde am Depot ankam, da sah ich ihn wieder. Aufgebügelt geparkt vor dem kleinen Verwaltungsbau. Wie zwei Tage zuvor war das Tor offen und niemand zu sehen. Am Samstag hatte ich mich nicht getraut, aber jetzt. Mehr als vom Gelände jagen konnten sie mich ja nicht. Jeder Versuch, in ein russisches Straßenbahndepot zu kommen, war bislang am Wachpersonal gescheitert. Doch hier gab es keines.

Nachdem alles fotografiert war, wollte ich nun aber doch wissen, was mit dem Betrieb los war. Also ging ich in das kleine Gebäude, klopfte an die Tür. Zwei Damen waren da, ich wurde freundlich begrüßt. „Fährt die Tram heute nicht?“ fragte ich. „Von etwa 10 bis 16 Uhr ist Pause.“ Da hätte ich ja noch lange warten können. Also war das auch geklärt. „Wenn Sie mitfahren wollen, kommen Sie doch um 15:45 Uhr. Da geht es wieder los“, sagte eine der beiden.

Auf zur Nachmittagsschicht

Das ließ ich mir natürlich nicht nehmen. Bis dahin war noch genug Zeit für einen schnellen Snack im Einkaufszentrum. Als ich zurückkam, war gerade die halbe Belegschaft des Depots um den Wagen versammelt. „Und Sie fahren heute mit uns?“, fragte die Fahrerin, die offenbar schon über den Gast informiert worden war.

Der Gleisplan des Depots ist dermaßen einfach, dass die Trams rückwärts ausrücken müssen. Eine Wendeschleife gibt es nicht, lediglich drei Stumpfgleise. Das erste, kürzeste führt rechts an der Grundstücksgrenze entlang, das zweite bildet einen weiten Bogen durchs Gelände und wird zum Abstellen der beiden ausgemusterten Wagen verwendet. Das dritte führt vor dem kleinen Verwaltungsbau vorbei in die Werkstatt, in der nur ein Wagen Platz findet. Der zweite übernachtet im Freien.

Beim Ausrücken muss die Tram zunächst rückwärts eine Fahrspur der Hauptstraße überqueren. Die Anschlussweiche des Depots ist handbedient. Zwei Mann öffnen dazu Blechklappen, die in der Straße eingelassen sind. Wenn die Weiche umgelegt ist, kann es losgehen.

Ich stieg ein und löste gleich zwei Tickets. Der Wagen fuhr zunächst zum westlichen Streckenende beim Aluminiumwerk. Dort ging es mangels Fahrgästen ohne Halt durch die Wendeschleife und ich fuhr einmal die ganze Strecke entlang bis zum Ufer der Turja. Unterwegs stieg tatsächlich jemand ein, bei dem es sich jedoch nicht um einen zahlenden Fahrgast, sondern einen Bekannten der Fahrerin handelte, der zum Tratschen im Führerstand verschwand und kurz vor der Wendeschleife wieder absprang.

Nun konnte ich endlich auch einmal dort ein Foto von dem Wagen machen. Dank einer kurzen Pause gelang es mir noch schnell, einen weiteren Standpunkt aufzusuchen, bevor es wieder zurück ging. Für den folgenden Kurs positionierte ich mich nun etwa dort, wo ich am Vormittag vergeblich gewartet hatte. Die Stelle war auch aus der anderen Richtung nicht verkehrt.

Nach zwei weiteren Aufnahmen im Zentrum an der Uliza Popowa fuhr ich noch einmal mit. Leider war am westlichen Streckenende wider Erwarten schon Schatten. Beim Aussteigen wartete die Fahrerin extra kurz, dass ich noch ein Foto machen konnte. Für den letzten Kurs war es dann schon etwas dunkel für Fotos, doch ich ging zum Abschluss der Reise noch einmal zum Depot, um dem Einrücken beizuwohnen und mich beim Personal für die freundlichen Gesten zu bedanken.

Privatführung durch die Werkstatt

Zum krönenden Abschluss schloss mir dann Artur, der leitende Elektromechaniker, auch noch die Werkstatt auf und ich bekam eine kleine Führung. Der zweite Wagen mit der Nummer 328 stand drinnen. In der engen Halle scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Technik erinnert an die 1960er Jahre. Zu dritt halten sie hier den Betrieb am Laufen, so Artur, drei weitere sind für die Instandhaltung der Gleise zuständig. Repariert wird alles selbst. Bei der einfachen Technik der KTM-5 lässt sich das mit dieser Ausstattung noch machen. Für Ersatzteile ist kein Geld da.

„Schon ein apokalyptisches Bild“, sagt Artur selbst zum Anblick des KTM-5 im trüben Licht der Halle, in der der Putz von den Wänden blättert. Noch ein paar Jahre vielleicht, werde die Bahn laufen. Es sei schon ewig nichts mehr investiert worden.

Man kann nur hoffen, dass es doch wieder einmal anders kommt. Schon vor Jahren hieß es, die Krasnoturjinsker Straßenbahn werde wohl nicht mehr lange überleben. Um immer hat sie noch einmal die Kurve gekriegt.

So endete eine der spannendsten Straßenbahntouren mit einem Highlight und ich ging zufrieden zu meiner Unterkunft zurück. Übrigens meinte auch Artur, dass es eher eine Urban Legend sei, dass Krasnoturjinsk eine für Ausländer gesperrte Stadt sei.

Am nächsten Morgen ging es schließlich mit einem deutlich komfortableren Bus zunächst zum Busbahnhof Nord in Jekaterinburg und dann am Abend zurück nach Moskau.

Offizieller Netzplan (transphoto.org)
VK-Gruppe zur Krasnoturjinsker Straßenbahn (russisch)

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