Zum 120. Geburtstag: die Straßenbahn in Jaroslawl

Jarloslawl, Oblast Jaroslawl
Februar 2021

Zugegeben, es ist schon ein paar Monate her, dass die Straßenbahn von Jaroslawl ihren 120. Geburtstag feierte. Eröffnet wurde sie am 30. Dezember 1900 und gehört damit zu den ältesten im Land. Der Bilderbogen, den ich hier zeige, entstand an zwei eisig kalten Wintertagen im Februar dieses Jahres.

Die Motive, die man zu sehen bekommt, mögen nicht unbedingt zu dem Bild passen, dass man gemeinhin von der UNESCO-Welterbe-Stadt hat. Das etwa 300 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegene Jaroslawl mit seinen knapp über 600.000 Einwohnern zählt zum sogenannten Goldenen Ring, einer Reihe historischer Städte mit reichem architektonischem Erbe. Mit zahlreichen klassizistischen Bauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert sowie einer Vielzahl historischer Kirchen ist die Stadt an der oberen Wolga ein touristischer Anziehungspunkt. Gleichzeitig ist Jaroslawl aber auch ein bedeutender Industriestandort mit zahlreichen Maschinenbau- und Chemiebetrieben. Bekannt sind etwa Lacke und Farben unter der Marke Jaroslawskije Kraski.

Das heutige Netz erstreckt sich größtenteils in den jüngeren Stadtteilen. Es verbindet die Innenstadt und das Pjatjorka-Viertel mit dem sowjetisch geprägten Wohndistrikt Bragino im Nordwesten. Die Stammstrecke verläuft dabei durch ein ausgedehntes Industriegebiet. Straßenbahnmotive mit historischen Bauten sucht man vergeblich, denn die Linien durch die Altstadt existieren längst nicht mehr. Dafür gibt es Industriegebäude, Stalin-Architektur sowie sozialistischen Massenwohnungsbau als Hintergrund und sogar eine Strecke mit richtigem Überlandcharakter.

Innenstadtnetz weitgehend verschwunden

Mit dem ursprünglichen Netz der Jaroslawler Straßenbahn hat das alles nicht mehr viel zu tun. Bereits zweimal folgte auf eine Phase der Expansion eine Stilllegungswelle. Die erste fand bereits in den 1960er Jahren statt und betraf vor allem Strecken in der recht beengten Altstadt, die zugunsten von Bus- und Trolleybuslinien eingestellt wurden. Ende der 1970er Jahre begann die Erschließung neuer Stadtteile im Nordwesten, sodass das Netz wieder wuchs. Die beiden Streckenäste nach Bragino entstanden in dieser Zeit. Damals aufkommende Pläne für eine unterirdische Innenstadtlinie wurden allerdings nie umgesetzt.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion setzte ein allmähliches Siechtum ein. Der Zustand der Wagen und Gleisanlagen verschlechterte sich, Intervalle wurden ausgedünnt. In den 2000er Jahren kam es schließlich zu einer zweiten Stilllegungswelle, der weitere Innenstadtstrecken zum Opfer fielen, etwa die zum Bahnhof Jaroslawl Glawnyj, dem Hauptbahnhof. Gleichzeitig wurden jedoch neue Fahrzeuge angeschafft und somit dem verbliebenen Netz eine Zukunftsperspektive gegeben.

Nur ein Streckenast wagt sich heute noch ins Zentrum vor: ein KTM-19 am Einkaufszentrum Gigant am Prospekt Oktjabrja.

So zeigt sich die Straßenbahn in Jaroslawl heute relativ modern. Die noch vorhandenen Strecken sind allesamt vom Individualverkehr unabhängig trassiert. Der Fuhrpark besteht fast durchweg aus KTM-19, deren Großteil direkt hierher geliefert wurde. In jüngster Zeit kamen noch einige Wagen gebraucht aus Moskau hinzu. Zudem ist noch ein knappes Dutzend KTM-5 vorhanden. Leider war von diesen an den Tagen des Besuchs aufgrund des Feiertagsfahrplans keiner im Einsatz.

Das Netz ist überschaubar. Der heutige Endpunkt in der Innenstadt befindet sich an der Uliza Swerdlowa nahe dem Einkaufszentrum Aura und dem Schinnik-Fußballstadion. Auf dem Gelände des Einkaufszentrums befand sich einst das erste Straßenbahndepot. Die Strecke führt nach Nordwesten und trifft nach etwa eineinhalb Kilometern auf den Ast aus der Uliza Tschkalowa, der das Stadtviertel Pjatjorka erschließt. Gemeinsam geht es entlang dem Prospekt Oktjabrja durch Industriegebiete, bis sich die Strecke wieder gabelt: links der längere Ast zum Krankenhaus No. 9 am äußersten Stadtrand, rechts der kürzere zur Uliza Bljuchera.

Die Linie 6 entlang der Uliza Bljuchera

Hier begann meine Exkursion am 22. Februar, kurz vor Sonnenaufgang bei etwa minus 20 Grad. Die Strecke wurde 1980 eröffnet. Hier verkehrt seit jeher die Linie 6, welche von der Uliza Tschkalowa her kommt. Kurz nach der Gabelung an der Haltestelle TZ Omega führt die Strecke ein Stück durch einen Wald, um dann für zweieinhalb Kilometer der Uliza Bljuchera zu folgen. Bei der handelt es sich zunächst jedoch eher um einen Feldweg und die Strecke hat den Charakter einer richtigen Überlandstraßenbahn.

Nach etwa einem Kilometer zwischen Industriegelände und Wiese ist der östliche Teil von Bragino erreicht. Fünfgeschossiger Plattenbau der Ära Chruschtschow prägt hier das Bild. Den letzten knappen Kilometer bis zur Wendeschleife geht es idyllisch an einer Baumreihe entlang.

Vier Kurse verkehren auf der Linie 6, was etwa einen 20-Minuten-Takt ergibt. Damit ist der Ast zur Uliza Bljuchera der mit dem geringsten Verkehr des Netzes.

Die westliche Strecke durch Bragino

Wesentlich mehr los ist auf dem westlichen Streckenast. Hier verkehren die Linien 5 und 7. Die 5 kommt von der Uliza Tschkalowa, die 7 von der Uliza Swerdlowa. Nach einem Kaffee beim im Einkaufszentrum Kosmos ging es zunächst zur Uliza Alexandra Newskogo. Die Strecke führt dort ein Stück abseits der Hauptstraßen durch das Wohngebiet, was nette Fotomotive bietet.

Zwischen den Haltestellen Uliza Urizkogo und Uliza Jeleny Kolesowoj befindet sich eine planmäßig nicht genutzte Wendeschleife. Von hier folgte ich den Gleisen stadteinwärts.

Bei der Haltestelle Uliza Jeleny Kolesowoj trifft die Trasse auf den Leningradskij Prospekt, dem sie in Seitenlage folgt. Zunächst wird das Depot passiert, dann die Abzweigstelle an der Haltestelle TZ Omega.

Nahe dem Einkaufszentrum Rio wird die Autobahn M8 unerquert.

Durchs Industriegebiet im Leninskij Rajon

Nun nähert sich die Strecke dem Industriegebiet. Dabei wird zunächst ein Industriegleis auf einer fotogenen Brücke überquert, dann geht es entlang dem Prospekt Oktjabrja in Richtung Innenstadt. Der Zufall wollte es, dass ich auf der Anschlussbahn auch noch eine Rangierlok erwischte.

Gemeinsam mit den Wagen der Linie 6 herrscht hier ein recht dichter Takt. Bei der Haltestelle JaMS, dem Jaroslawler Motorenwerk, befindet sich eine nicht mehr genutzte Wendeschleife für stadteinwärts fahrende Wagen. Bis zum Jahr 2015 endete die Linie 6 hier, dann wurde sie zur Uliza Tschkalowa verlängert.

Nach zweieinhalb Kilometern wird die Transsibirische Eisenbahn auf einer weiteren Brücke überquert und dann folgt die Gabelung der Strecken in Richtung Uliza Tschkalowa und Uliza Swerdlowa.

Das Gleisdreieck hier ist die einzige Stelle, an der sich alle vier Linien des Netzes begegnen.

Die Innenstadtstrecke zur Uliza Swerdlowa

Wir folgen zunächst der Strecke in Richtung Innenstadt. Es geht vorbei am Einkaufszentrum Gigant, das bereits zu Sowjetzeiten bestand. Dann biegt die Strecke ab in die Uliza Wolgogradskogo.

Hier geht es an Bauten des Stalin-Klassizismus entlang, bis die Strecke in den Kutscherskoj Pereulok abbiegt. Auf dem Sträßchen herrscht kaum Autoverkehr und es gibt einige ansprechende Motive.

Bald darauf wird die Uliza Pobedy überquert und die Endhaltestelle Uliza Swerdlowa erreicht. Hier gab es nach der Stilllegung der weiterführenden Strecke jahrelang nur ein Gleisdreieck zum Umsetzen. Die heutige Wendeschleife wurde erst 2014 errichtet.

Die Strecke ins Pjatjorka-Viertel

Zuletzt geht es noch auf den Streckenast in der Uliza Tschkalowa. Das dortige Stadtviertel entstand in den 1950er Jahren und ist geprägt von der Architektur des Stalin-Klassizismus. Seinen Namen hat es tatsächlich von der Straßenbahnlinie 5 (pjat=fünf). Allerdings führte die damalige Linie 5 von hier in Richtung Innenstadt, entspricht also eher der heutigen Linie 1. Die heutige Linie 5 nach Bragino verkehrt hier erst seit 2007.

Während die Straßenbahn in Jaroslawl sonst fast überall in Seitenlage verkehrt, verläuft die Trasse hier in Straßenmitte. Mit den Linien 1, 5 und 6 herrscht auf diesem Streckenabschnitt der dichteste Verkehr im ganzen Netz.

Hier endet nun der winterliche Ausflug zur Jaroslawler Straßenbahn. Seit vergangenem Jahr wird übrigens am Wochenende zweimal täglich eine Sightseeing-Tram mit historischen Informationen angeboten. Sie startet je um 11 und 14 Uhr an der Uliza Swerdlowa, der Fahrpreis beträgt 200 Rubel.

Offizielle Seite des Betreibers JarGorTrans
Film zum 120. Jubiläum von Otkrytyj Jaroslawl (YouTube, russisch)
Offizieller Netzplan (transphoto.org, veraltet)

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