Tscherepowez, die Stahlstadt im Nordwesten

Tscherepowez, Oblast Wologda
Dezember 2020

Eine Nachtzugfahrt nördlich von Moskau liegt die Industriestadt Tscherepowez, die Heimat des Stahlkonzerns Sewerstal. Mit knapp über 300.000 Einwohnern ist es die größte Stadt der Oblast Wologda. Das Straßenbahnnetz ist zwar recht übersichtlich, bietet jedoch besonders im Bereich des Stahlwerks beeindruckende Fotomotive. Zudem lassen sich hier derzeit noch zahlreiche KTM-5 im Einsatz erleben. Damit dürfte jedoch bald Schluss sein, denn die Verkehrsbetriebe planen die Erneuerung des Fuhrparks. Zeit also für eine Reise in die Stahlstadt im Nordwesten!

Deren Name geht auf das Wepsische zurück, eine finno-ugrische Sprache, die heute nur noch von wenigen Tausenden Menschen gesprochen wird. Die heutige Stadt entwickelte sich aus einem Kloster, das hier bereits im 14. Jahrhundert gegründet wurde. Im Jahr 1777 erhielt die zugehörige Siedlung Stadtrechte.

Eine sowjetisch geprägte Stadt

Einen Entwicklungsschub erhielt Tscherepowez durch den Bau des Mariinsker Kanals Anfang des 19. Jahrhunderts, eines Vorläufers des Wolga-Ostsee-Kanals. Erste Industrien siedelten sich an, 1905 kam der Eisenbahnanschluss hinzu. Dass Tscherepowez jedoch ein Zentrum der Stahlindustrie ist, geht erst auf die Sowjetzeit zurück. Aufgrund der verkehrsgünstigen Lage an der Kreuzung von Wasser- und Schienenweg wurde in den 1930ern beschlossen, hier ein Stahlwerk zu errichten.

Zentralnyj Rynok, Tscherepowez
Der Zentrale Markt in Tscherepowez

Dessen Bau verzögerte jedoch der Große Vaterländische Krieg und so begann die Stahlproduktion erst im Jahr 1955. Insbesondere in den 1970er Jahren wuchs die Stadt enorm, bis heute ist Tscherepowez stark von dieser Epoche geprägt. Abgesehen von einer kleinen Altstadt präsentiert sich der Ort durch und durch sowjetisch.

Rund um den Skwer Metallurgow, den Platz mit dem Denkmal für die Stahlarbeiter im Zentrum, gibt es eine Reihe an Bauten des Sozialistischen Klassizismus. In den übrigen Mikrobezirken bestimmt Plattenbau der 1960er bis 1980er Jahre das Bild, ausgehend vom Zentrum werden diese in Richtung Stadtrand immer höher. Architektonisch interessant ist der 1976 eröffnete Zentrale Markt, eine dieser typisch sowjetischen Markthallen im Stil der Moderne. Dahinter schließt sich ein Straßenmarkt an.

Kino in Tscherepowez
Das Kino „Komsomolez“ am Komsomolskij Park

Nördlich und westlich des Zentrums erstreckt sich das riesige Gelände des Stahlwerks, dessen Geräuschkulisse von fast überall in der Stadt zu hören ist.

Übersichtliches Straßenbahnnetz

Die Straßenbahn von Tscherepowez wurde im Jahr 1956 eröffnet und diente von Anfang an hauptsächlich der Anbindung des Stahlwerks. Sie besteht bis heute im Wesentlichen aus einer langen Ost-West-Strecke, von der eine eingleisige Schleife zum Bahnhof abzweigt, welche nur von Ost nach West befahren wird. Eine weitere Schleife am westlichen Rand des Stadtzentrums wird nur von Betriebsfahrten genutzt. Hier befand sich das erste Depot.

Dieses wurde später an die Olimpijskaja Uliza am östlichen Streckenende verlegt. Die dortige Wendeschleife führt durch das Depotgelände. In den 1970er Jahren gab es Pläne, die Straßenbahn über die damals neu errichtete Oktjabrskij-Brücke in die Stadtteile südlich des Flusses Scheksna zu führen. Daraus wurde jedoch nichts mehr.

Heute gibt es in Tscherepowez drei Linien, welche die etwas verwirrenden Nummern 2, 4 und 8 tragen. Die 4 durchläuft die Ost-West-Strecke komplett, eine eingekürzte 4a endet bereits an der Haltestelle Domennaja, die ihren Namen von den Hochöfen des Stahlwerks hat. Die 8 kommt von Osten und führt durch die Schleife am Bahnhof wieder zurück. Die 2 führt ebenfalls komplett durch von Ost nach West, im Gegensatz zur 4 jedoch über den Bahnhof. Sie verkehrt nur am frühen morgen und nur in Ost-West-Richtung.

Anschaffung neuer Fahrzeuge geplant

Der Fahrzeugpark besteht derzeit zu einem Großteil aus KTM-5, von denen noch 27 Stück in Betrieb sind. Dabei handelt es sich um 19 Stück der Reihe 71-605 von 1984 und acht Stück 71-605A von 1992. Die meisten von ihnen erhielten in den 2010er Jahren neue, rechteckige Frontscheinwerfer. Diese sind etwas kleiner als bei vielen anderen Umbauten, wodurch die Fahrzeuge ein unverwechselbares Aussehen haben. Die Inneneinrichtung ist bei fast allen Fahrzeugen ebenfalls jüngeren Datums. Dazu kommen einige KTM-8 und seit 2018 zehn gebrauchte KTM-19 aus Moskau. Von diesen wird derzeit jedoch nur ein einziger eingesetzt.

Es wird durchweg mit Schaffnerinnen gefahren, auch in dem KTM-8, auf dem in großen Lettern ein Hinweis auf schaffnerlosen Betrieb angebracht ist. Die 29 Rubel Fahrpreis können in bar, per Bankkarte oder mit einer aufladbaren Nahverkehrskarte bezahlt werden. Letztere ist an Kiosks in der Stadt erhältlich. Mitarbeiter von Sewerstal fahren auf dem Abschnitt entlang des Werksgeländes kostenlos.

Lange wird Tscherepowez wohl keine Hochburg der KTM-5 mehr bleiben. Die Stadtverwaltung möchte in den kommenden drei Jahren den Fahrzeugpark erneuern und hat dazu 2020 bereits drei verschiedene Fahrzeugtypen im Einsatz getestet. Zunächst waren dies die 71-407-01 und 71-415 von Uraltransmasch und zuletzt ein Gelenktriebwagen der Reihe 71-923-M „Bogatyr-M“ aus dem Hause PK Transprtyje Sistemi. Weitere sollen folgen.

Erste Erkundungen bei trübem Wetter

Meine Tour durch Tscherepowez Anfang Dezember 2020 begann am Bahnhof. Zu dieser Jahreszeit ist es bei Ankunft des Nachtzugs aus Moskau um 8 Uhr morgens noch stockdunkel. Da die Unterkunft erst ab Mittag bezugsfertig war, gab ich meinen Rucksack am Bahnhof ab und ging direkt auf Erkundungstour. Ein KTM-5 kam gerade die Schleife entlanggefahren und legte einen längeren Halt am Bahnhof ein. Ich ging jedoch zu Fuß die Schleife entlang bis zum Prospekt Pobedy, der Hauptstraße. Von dort fuhr ich im ersten Morgenlicht mit der 4a zu deren Endstation Domennaja.

Dort befinden sich drei imposante Kühltürme direkt neben der Uliza Mira, die als öffentliche Straße weit in das Stahlwerksgelände hineinführt. Mächtige Dampfsäulen stiegen in den wolkenverhangenen Himmel und boten zusammen mit dem Schnee eine grimmige Industriekulisse. Hier versuchte ich mich so lange an Aufnahmen, bis mir die Finger beinahe festfroren. Es hatte zwar nur -12 Grad, doch ging ein eisiger Wind und es war feuchtkalt.

Nach einem Kaffee im Einkaufszentrum „Etaschi“ holte ich meinen Rucksack ab und bezog mein Zimmer. Mittagessen gab es im „Wstretschi“, einer dieser Stolowajas, wie die Selbstbedienungsrestaurants aus Sowjetzeiten genannt werden. Das Essen war ganz gut und das Personal sehr nett, sodass ich die Tage noch öfters dort vorbeischaute. Größere Fotoexkursionen verschob ich auf die kommenden drei Tage, an denen Sonnenschein angesagt war.

An der Schleife zum Bahnhof nutzte ich noch die Gelegenheit für eine Aufnahme, die bei sonnigem Wetter nur mit Gegenlicht möglich gewesen wäre.

An der eingleisigen Strecke zum Bahnhof

Diese von den Linien 2 und 8 befahrene Schleife bietet hübsche Motive abseits der Hauptstraße, der die Straßenbahn in Tscherepowez sonst durchweg folgt. Dazu sorgt die eingleisige Trassierung für eine gewisse Idylle. Die Strecke ist jedoch zur dunklen Jahreszeit fotografisch schwierig umzusetzen.

Die Wagen biegen vom Prospekt Pobedy in den Sowjetskij Prospekt ab und folgen diesem zunächst in der Straßenmitte in nordöstlicher Richtung. Dann geht es in nordwestlicher Richtung auf der Komsomolskaja Uliza bis zum Bahnhofsvorplatz. Interessant wird der folgende Abschnitt, auf dem das Gleis zwischen den Wohnbloks des 4. Mikrorajons hindurch zurück zum Prospekt Pobedy verläuft.

Die dortigen Motive bieten sowjetische Wohnblockidylle wie aus dem Bilderbuch. Für etwa eine Stunde am frühen Nachmittag fällt das Licht in die Schneise zwischen den Bauten. Bei einem Intervall von etwa 15 Minuten bleiben da nicht viele Gelegenheiten für die verschiedenen Stellen. Nicht selten wanderte der Schatten eines Plattenbaus ins Gleis, bevor der erwartete Wagen angefahren kam.

Da jedoch tatsächlich drei Tage in Folge strahlender Sonnenschein herrschte, blieb genug Zeit für alle Motivvarianten, die das etwa einen halben Kilometer lange Streckenstück bietet.

Mit der Straßenbahn ins Stahlwerk

Besonders beeindruckend ist der westliche Ast der Straßenbahnstrecke, der mitten in das Stahlwerksgelände hineinführt. Er passiert zunächst die Universität und dann, kurz vor dem Ende der Wohnbebauung, eine Brauerei, die sich „Münchner Bier“ nennt. Etwa dort wechseln die Gleise von der Mittel- in die Seitenlage und folgen der Uliza Mira entlang einiger Verwaltungsbauten von Sewerstal.

Kurz hinter der Wendeschleife an der Haltestelle Domennaja ragen dann die bereits bekannten drei Kühltürme in die Höhe. Deren Dampfsäulen setzten sich bei Sonnenschein natürlich noch deutlicher vom Hintergrund ab.

Zur Winterzeit lässt sich das Motiv bei Sonnenschein nur ab dem späten Nachmittag umsetzen, wenn sie Sonne hinter den Gebäuden auf der Südseite der Straße auftaucht.

Entlang der Gleise verläuft ein Fußgängerweg. Kurz nach dem Werksmuseum biegt die Strecke leicht nach links und unterquert verschiedene Rohrleitungen, die Werksteile links und rechts der Straße miteinander verbinden.

Kurz danach folgt eine mit Schranken gesicherte Kreuzung mit einem Werksgleis. Auch die Rohrkonstruktionen an der vorletzten Haltestelle Kislorodnaja bieten eine beeindruckende Industriekulisse.

Hinter der Endstation Aglofabrika No. 3, die sich direkt an einem Werkstor befindet, folgen die Gleise noch ein Stück weit dem Zaun, bis genug Platz für eine Wendeschleife ist.

Nach Osten in den Sajagorbskij Rajon

Innerhalb der Innenstadt liegt die Trasse im Winter praktisch den ganzen Tag im Häuserschatten. Am östlichen Ende der City wird der Fluss Jagorba auf einer Brücke überquert. Hier fällt Sonnenlicht auf die Gleise.

Jenseits erstreckt sich der jüngere Sajagorbskij Rajon. Die Strecke folgt auch hier dem breiten Prospekt Pobedy in Mittellage. Wie in einer typischen Vorstadt der 1970er und 1980er Jahre ragen hier die sozialistischen Wohnblocks in die Höhe, hier und da wurden in den postsowjetischen Jahren Einkaufszentren und Fast-Food-Restaurants dazwischen platziert.

Nach einigen Kilometern enden Stadt und Straßenbahn recht abrupt an der Olimpijskaja Uliza. Jenseits dieser verschwinden die Gleise im Deopt, in dem sich auch die Wendeschleife befindet.

Hier endet auch die Exkursion zur Straßenbahn der Stahlstadt im Nordwesten, die trotz ihres kleinen Netzes einen Besuch wert ist. Allein die Industriekulissen suchen ihresgleichen.

Wer nach der Straßenbahntour noch zu Kaffee und Kuchen einkehren will, findet an der Uliza Miljutina das charmante Café Manufaktura. Danach findet man im Imperial Pub am Sowjetskij Prospekt in der Altstadt Biere aus eigener Brauerei.

Die Verkehrsbetriebe Elektrotrans suchen übrigens gerade per Wettbewerb nach einem neuen Logo.

Offizielle Seite
Netzplan (transphoto.org)

One thought on “Tscherepowez, die Stahlstadt im Nordwesten

  1. Ich bin seit 2015 regelmäßig und mehrmals im Jahr als technischer Berater im Severstal Hüttenwerk tätig.Meine Erfahrungen liegen im Bereich Kaltwalzeinrichtungen und Oberflächenveredelung kaltgewalzter Feinbleche .Meine Absicht und Aufgabe bestand darin die vorhandenen Fertigungseinrichtungen an den entscheidenden Stellen so zu optimieren, daß sich Severstal mit seinen oberflächen veredelten Feinblechen als zuverlässiger Lieferant und Partner bei Westeuropäische Autombilherstellern (OBM`s) etabliern kann .Ich freue mich gemeinsam mit den Fachleuten von Severstal dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet zu haben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert