Omsk, Oblast Omsk
Februar 2019
Dieser Bilderbogen aus Omsk entstand als Nebenprodukt einer grotesken Reise für meinen späteren Arbeitgeber im Februar 2019. Mit einem verpassten Anschlussflug, verspätetem Gepäck, annulliertem Rückflug und zuletzt noch mit erschöpftem Kreditkartenrahmen geriet der Trip zu einem einzigen Abenteuer. Zugleich war es mein erster Besuch in Sibirien und meine erste Begegnung mit einem KTM-5. Die sympathischen Blechkisten haben sofort mein Herz erobert. Und auch nach Sibirien hat es mich seither immer wieder gezogen.
Angefangen hat alles jedoch eher katastrophal. Zuerst hatte ich den Anschlussflug in Moskau verpasst. Dann stand ich gegen 7 Uhr morgens völlig übermüdet an der Gepäckausgabe des Omsker Flughafens und wartete vergeblich auf meinen Koffer. Und ich Spezialist hatte da nicht nur meinen Laptop drin, sondern auch noch den Schal und die Handschuhe. Als ich vor das Terminalgebäude trat, zeigte das Thermometer -38 Grad. Bis zu diesem Moment hatte ich keine Vorstellung davon gehabt, wie sich das anfühlt. Zu meiner Rettung ließ das Taxi nicht lange auf sich warten und schon nach 15 Minuten stand ich im Morgengrauen an der Rezeption meines Hotels.
Mit dem Koffer war vor dem nächsten Tag nicht zu rechnen. Nach ein paar Stunden Schlaf machte ich mich daher auf, das Nötigste zu besorgen und mir ein wenig die Stadt anzuschauen, von der ich vorher nicht viel mehr wusste, als dass sie existiert. Im Gegensatz zu den Handschuhen und dem Schal hatte ich die Kamera zum Glück im Handgepäck gehabt.
Das hässliche Entlein Russlands
Mit etwa 1,1 Millionen Einwohnern ist Omsk die zweitgrößte Stadt Sibiriens und die neuntgrößte Russlands. Wenn man in Moskau jemandem erzählt, dass man hierher kommt, erntet man in aller Regel nur fragende Blicke. „Was willst du denn gerade da?“, heißt es meistens. „Omsk ist die mit Abstand abgefuckteste von allen russischen Millionenstädten“, meint der Straßenbahnfan Michail aus Moskau. „Moskau ist Moskau. Das hier ist das richtige Russland“ sagt die Deutschlehrerin Larissa aus Omsk. Beide haben ein Stück weit recht.
Beim Gang durch die westsibirische Stadt würde man kaum auf die Idee kommen, sich in einer Millionenmetropole zu befinden. Es wirkt doch alles sehr provinziell. Architektonisch ist Omsk wild zusammengewürfelt: sibirische Holzhäuser, Wohnblocks aus Sowjetzeiten, postsowjetische Einkaufszentren. Einen Kreml mit historischer Zwiebelturmkirche sucht man ebenso vergeblich wie zeitgenössische Hochhäuser. An der Uliza Lenina im Zentrum befinden sich einge schmucke restaurierte Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert. Sehenswert sind zudem einige Bauten der zweiten Phase der Sowjetischen Moderne, etwa die Puschkin-Bibliothek oder das Musiktheater. Dennoch: Ein deutscher Transsib-Reiseführer, der Irkutsk lobt und Nowosibirsk als nicht besonders sehenswert abtut, erwähnt Omsk noch nicht einmal.
Und das Millionendorf ist berüchtigt für seine stets knappe Stadtkasse, entsprechend sieht die Infrastruktur aus. Berühmt sind die Matschpfützen, die sich im Frühjahr während der Schneeschmelze bilden. Der bekannte Blogger Ilja Warlamow hat ihnen mit einer Fotostrecke ein Denkmal gesetzt. Legendär ist zudem die nie vollendete Omsker Metro, vor der nur eine einzige Station im Rohbau fertiggestellt wurde, welche heute als Fußgängerunterführung genutzt wird. Da wundert es auch nicht, dass seit den 1990er Jahren bis 2020 so gut wie keine neuen Straßenbahnwagen angeschafft wurden. Mittlerweile sind jedoch neben gebrauchten KTM-19 aus Moskau auch neue 71-407-1 und 71-412 von Uraltransmasch in Omsk eingetroffen.
Geschrumpftes Straßenbahnnetz
In den 1990er Jahren wurden in Omsk zahlreiche Straßenbahnlinien stillgelegt. Dies betraf sowohl Außenäste als auch mehrere Strecken durch die Innenstadt. Im eigentlichen Zentrum findet man daher heute überhaupt keine Straßenbahngleise mehr, die Tram ist vor allem zu einem Verkehrsmittel für die Randgebiete geworden. In diesem Jahr wurde jedoch ein Masterplan vorgestellt, der den Ausbau des Netzes vorsieht, wobei auch die einst für die Metro gebaute Brücke über den Irtysch einbezogen werden soll. Ich kann der Stadt nur wünschen, dass die Pläne nicht so enden wie die für die Metro.
Doch zurück zu jenem Tag im Februar 2019: Das Thermometer war mittlerweile auf -33 Grad geklettert, es herrschte herrlicher Sonnenschein. Von meinem Hotel, das nahe der Mündung des Om in den Irtysch lag, ging ich zu Fuß in Richtung Uliza Marschala Schukowa, wo die nächsten Straßenbahngleise zu finden waren. Unterwegs wärmte ich mich in einer kleinen Buchhandlung auf und kaufte ein paar Postkarten. Ob es mir nicht kalt sei, fragte die junge Verkäuferin. Ein Paar Handschuhe taten wirklich Not, ansonsten ging es eigentlich.
Nach etwas über einem Kilomater war die Haltestelle Uliza Marschala Schukowa an der gleichnamigen Straße erreicht. Drei Linien verkehren hier, die in Richtung Süden alle zur Uliza Kotelnikowa führen und dabei in der Nähe des Bahnhofs vorbeikommen. Schon bald kam einer der rustikalen KTM-5 um die Ecke gerumpelt. Die Ust-Katawer Klassiker waren damals noch fast komplett unter sich in Omsk, es gab ansonsten lediglich eine Handvoll KTM-8, zwei KTM-19 und einen einzigen BKM 62103.
Ein paar Fotos und dann stieg ich in den nächstbesten Wagen in Richtung Bahnhof ein. Ich war ja oft genug mit Tatras unterwegs gewesen, teils deutlich älteren, aber dieses Fahrzeug stellte alles in den Schatten. Dieser kantige Wagenkasten mit den Sickenblechen, die abgehalfterten Plastiksitze und die archaischen Schiebetüren, die mittels Kette geöffnet und geschlossen werden. Die metallische Soundkulisse, dazu die angenehme Wärme im Inneren und die vorbeiziehende verschneite Stadtlandschaft. Pure Faszination.
Beim Zirkus stieg ich aus und folgte nach ein paar Fotos der Uliza Serowa, auf der die Straßenbahntrasse in Seitenlage verläuft. Hier entstanden weitere Fotos, wobei mir jedes Mal beinahe die Finger festfestfroren. Manchmal so, dass ich sie kaum noch bewegen konnte. In der Nähe des Bahnhofs besorgte ich schließlich das Nötigste, Unterwäsche, Zahnbürste, einen Schal, ein paar Handschuhe und eine Schapka. Die Kälte konnte mir nun nichts mehr anhaben.
Suburbia in Sibirien
Mein Koffer war am nächsten Mittag zum Glück eingetroffen. Es vergingen einige Tage, bis ich wieder Zeit für die Straßenbahn fand. Doch eines Mittags bot sich die Gelegenheit. Ich beschloss, dieses Mal von der bereits bekannten Haltestelle Uliza Marschala Schukowa in die andere Richtung zu fahren. Die Wahl fiel auf die Linie 4, welche den Om überquert und in die nördlichen Vororte führt. Es hatte mittlerweile nur noch -20 Grad und es war wieder ein herrlicher Sonnentag – das traf sich perfekt. Teilweise führt die Strecke abseits befestigter Straßen durch Wohngebiete, die mal aus sowjetischem Plattenbau, mal aus hölzernen Einfamilienhäusern bestehen.
An der Haltestelle 11-ja Remeslennaja Uliza stieg ich aus. Hier trifft die Linie 4 auf die Linie 7. Diese führt von hier noch weit hinaus in die Vororte und ist für mich eine der interessantesten Straßenbahnlinien Russlands überhaupt. Gleich nach der Gabelung verläuft sie mitten durch eine Siedlung mit typisch russischen Holzhäusern in bunten Farben. Dort fand ich auch ein nettes Motiv mit einem Fernwärmerohr, das die Gleise überspannt. An dieser Stelle war dann allerdings Schluss, den Rest der Linie habe ich erst im Sommer 2019 erkundet. An diesem Wintertag ging es schon bald mit der Linie 4 wieder zurück.
Am Abend vor dem Abreisetag erhielt ich schließlich noch einen Anruf von Aeroflot: Mein Flug nach Moskau wurde gestrichen. Ich wurde auf einen anderen morgens um 5 Uhr umgebucht. Schlaf lohnte sich da auch nicht mehr und ich verließ Omsk so übernächtigt und zerknittert wie bei der Ankunft eine Woche zuvor. Zu allem Übel war auch noch meine Kreditkarte am Limit und wenn mir nicht ein gewisser Herr aus Barnaul aus der Klemme geholfen hätte, dann hätte ich alt ausgesehen.
Chaos hin oder her, die Stadt und ihre Straßenbahn sind mir in dieser Woche sehr ans Herz gewachsen.