Die Jaroslawler Straßenbahn befindet sich derzeit im Umbruch. Der Betrieb in der etwa 250 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Großstadt mit 567.000 Einwohnern war zuletzt arg heruntergekommen. Insbesondere die Gleisanlagen waren beziehungsweise sind in einem schlechten Zustand; Sorgen bereiten zudem zwei Brücken im Norden der Stadt. Der Fuhrpark besteht größtenteils aus einteiligen Hochflurwagen des Typs 71-619KT aus den 2000er Jahren. Ende 2023 hat nun die Sanierung begonnen; im Laufe des Jahres 2025 sollen die vier Linien auf komplett erneuerter Infrastruktur und mit neuen Fahrzeugen wieder in Betrieb gehen.
Netzplan (September 2023)
Der Betrieb wurde im Jahr 1900 eröffnet und gehört damit zu den ältesten in Russland. Nach Stilllegungen in den 2000er Jahren besteht das Netz heute noch aus einer langen Strecke vom Stadtteil Bragino im Norden durch die Industriegebiete im Dserschinskij Rajon in die Innenstadt, wo sie sich in zwei Äste gabelt, zur Uliza Tschkalowa und zur Uliza Swerdlowa. Zudem existiert noch ein Abzweig zur Uliza Bljuchera. Es verkehren vier Linien, wobei die Lücken in der Nummerierung auf die einstigen Stilllegungen hinweisen: 1 (Uliza Tschkalowa – Uliza Swerdlowa), 5 (Uliza Tschkalowa – Bolniza No. 9), 6 (Uliza Tschkalowa – Uliza Bljuchera) und 7 (Uliza Swerdlowa – Wolgogradksaja Uliza).
Sanierung als öffentlich-private Partnerschaft
Wie bereits in mehreren russischen Städten wird die dringend nötige Sanierung im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft durchgeführt. Das erste Projekt nach diesem Modell in Russland war 2018 der sogenannte „Tschischik“ in St. Petersburg. Es folgten die Straßenbahnen in Taganrog, Rostow am Don und Tscheljabinsk. Im Dezember 2022 schließlich schloss das Verkehrsministerium der Oblast Jaroslawl als Aufgabenträger mit der Firma Mowista Regiony Jaroslawl einen Konzessionsvertrag über Sanierung und Betrieb der Jaroslawler Straßenbahn ab.
Mowista hat sich verpflichtet, das Netz grundlegend zu sanieren und für 20 Jahre zu betreiben. Die Investitionen in Höhe von 19,7 Milliarden Rubel (rund 190 Millionen Euro) umfassen laut Vertrag die Erneuerung von 45,3 Kilometer Gleis samt neuer Oberleitung, den Bau von acht Unterwerken, den Neubau zweier Brücken, des Depots und einer Leitstelle sowie die Beschaffung 47 einteiliger, niederfluriger Straßenbahnwagen.
Von Juni bis September 2023 befand sich ein Fahrzeug des Typs 71-911EM „Lionet“ von PK Transportnye Sistemy zu Testzwecken in Jaroslawl. Schließlich entschied sich Mowista jedoch zur Beschaffung von Wagen des Typs 71-628-02 der Ust-Katawer Waggonbaufabrik. Deren erster traf am 5. Dezember 2023 bei der Jaroslawler Straßenban ein.
Restbetrieb mit verkürzten Linien
Im Oktober 2023 haben nun die Arbeiten mit der Demontage der alten Gleise an der Strecke zur Uliza Bljuchera begonnen, und die Linie 6 wurde außer Betrieb genommen. Hier liegen mittlerweile die ersten neuen Gleise. Am 6. Juni 2024 begannen auch die Arbeiten auf dem Abschnitt zwischen der Wolgogradskaja Uliza und dem Krankenhaus Nr. 9, und schon am 7. Juli wurde der Verkehr nördlich des Depots zwecks Sanierung eingestellt. Es verkehren seither die verkürzten Linien 5K (Uliza Tschkalowa – TZ Omega) und 7K (Uliza Swerdlowa – TZ Omega). Mangels Wendeschleife an der Haltestelle TZ Omega wenden sie über das Depotgelände. Die in Bau befindlichen Äste werden durch Ersatzbusse bedient.
Netzplan (Juli 2024)
Ursprünglich war geplant, im August auch die restlichen Strecken außer Betrieb zu nehmen. Dies wurde jedoch verworfen; der Betrieb läuft noch bis Anfang 2025 mit den alten Fahrzeugen weiter. Dann sollen die Strecken vom Depot in Richtung Bolniza No. 9 und vom Abzweig TZ Omega zur Uliza Bljuchera fertiggestellt sein. Wenn dann die neue Leitstelle an der Uliza Eleny Kolesowoj fertiggestellt ist, kann zumindest erstere Strecke mit den neuen Wagen in Betrieb gehen. Hiernach soll die Sanierung der restlichen Abschnitte beginnen. Die größten Baumaßnahmen sind dabei die beiden Brücken. Eine überspannt bei der Haltestelle Lakokraska ein Industriegleis und eine Straße, die andere die Gleise der Transsibirischen Eisenbahn. Ende 2025, zum 125-jährigen Geburtstag der Jaroslawler Straßenbahn, soll die Sanierung abgeschlossen sein.
Neue Wagen
Von den neuen Fahrzeugen aus Ust-Kataw waren im Juli bereits 27 Stück ausgeliefert. Die Vierachser des Typs 71-628-02 verfügen über 32 Sitzplätze. Die Gesamtkapazität der Wagen, die auch bereits nach St. Petersburg und Lipezk geliefert wurden, wird mit 119 Personen angegeben. Sie verfügen über eine Klimaanlage, USB-Ladebuchsen, kontaktlose Bezahlterminals und vandalismussichere Sitze.
Drei fabrikneue Wagen des Typs 71-628-02 auf dem Depotgelände, 22. Juli 2024
Sie sind bereits zu Testfahrten auf dem Netz der Jaroslawler Straßenbahn unterwegs, kommen jedoch erst nach Inbetriebnahme der neuen Infrastruktur im Fahrgastbetrieb zum Einsatz.
Unterwegs auf dem Restnetz: vom Depot bis zum TRZ Rio
Wagen 32 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) bei der Ausfahrt aus dem Depot, 22. Juli 2024
Hier folgt noch ein Bilderbogen vom Restbetrieb auf dem verbliebenen Netz, das ab 2025 zur Sanierung ansteht.
Die Linie 5K beginnt und endet derzeit an der Haltestelle TZ Omega, hier mit Wagen 24 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2005) am 22. Juli 2024. Das Fahrzeug kam 2018 aus Moskau.
Wagen 8 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) an der Haltestelle TRZ Rio, 22. Juli 2024
Im Bereich der Haltestelle TRZ Rio, benannt nach einem großen Einkaufszentrum, sollen im kommenden Jahr die Sanierungsarbeiten beginnen. Heute zeigt sie sich noch mit Lampen und Metallzäunen wie zu Sowjetzeiten.
Zwischen TRZ Rio und Lakokraska
Wagen 70 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) zwischen den Haltestellen TRZ Rio und Lakokraska, 22. Juli 2024
Wagen 3 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) zwischen den Haltestellen TRZ Rio und Lakokraska, 22. Juli 2024
Begegnung der Wagen 54 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2006) und 163 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) zwischen den Haltestellen TRZ Rio und Lakokraska, 22. Juli 2024
Wagen 171 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) zwischen den Haltestellen TRZ Rio und Lakokraska, 22. Juli 2024
Der mit Baujahr 1983 älteste Wagen im Betriebsbestand (29, 71-605, Ust-Katawer Waggonbaufabrik) zwischen den Haltestellen TRZ Rio und Lakokraska, 22. Juli 2024
Wagen 29 wurde laut lokalen Medien auserkoren, um als Museumsfahrzeug erhalten zu werden. Dabei ist jedoch nicht klar, ob er betriebsfähig bleibt oder als Denkmal aufgestellt wird. Insgesamt sind noch vier Wagen des Typs 71-605 (KTM-5) betriebsfähig vorhanden, darunter Wagen 129 mit seiner Sonderfolierung als Sightseeing-Tram. Der restliche Betriebsbestand umfasst 43 71-619KT und einen 71-619K.
Fahrgastraum des Wagens 29 (71-605, Ust-Katawer-Waggonbaufabrik 1983), 22. Juli 2024)
Wagen 185 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) auf der Brücke über die Industriegleise am Prospekt Oktjabrja, 22. Juli 2024
Die Brücke über die Industriebahn nahe der Haltestelle Lakokraska im Dserschinskij Rajon ist in desolatem Zustand. Hier wird ein Neubau erforderlich.
Wagen 9 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2005) wird gleich die Haltestelle Lakokraska erreichen, 22. Juli 2024.
Wagen 33 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2006) an der Haltestelle Lakokraska, 22. Juli 2024
Durch das Industriegebiet im Dserschinskij Rajon
Wagen 3 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) verlässt die Haltestelle Lakokraska, 22. Juli 2024.
Im Dserschinskij Rajon: Wagen 31 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) zwischen den Haltestellen NIIMSK und JaMS, 22. Juli 2024
Wagen 27 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) zwischen den Haltestellen NIIMSK und JaMS, 22. Juli 2024
Wagen 8 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) zwischen den Haltestellen NIIMSK und JaMS, 22. Juli 2024
Unter einem Werbeplakat der Kommunistischen Partei passiert Wagen 186 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) die Wendeschleife nahe der Haltestelle JaMS, 22. Juli 2024.
Wagen 70 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) hat die Haltestelle JaMS verlassen, 22. Juli 2024.
Wagen 3 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) auf der Rampe zur Brücke über die Transsibirische Eisenbahn, 22. Juli 2024.
In der Innenstadt
An der Endhaltestelle Uliza Swerdlowa im Stadtzentrum macht sich Wagen 39 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) auf den Weg in Richtung Uliza Tschkalowa, 22. Juli 2024.
Wagen 15 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) an der Endhaltestelle Uliza Swerdlowa im Stadtzentrum, 22. Juli 2024
Nahe der heutigen Endhaltestelle Uliza Swerdlowa befand sich früher das Depot Nr. 3, das 2005 geschlossen wurde. An seiner Stelle steht heute das Einkaufszentrum Aura. Von hier führte die Strecke einst noch weiter durch die Uliza Pobedy bis zur Bolschalja Oktjabrskaja Uliza, wo sie sich in einen Ast zum Bahnhof Jaroslawl Glawnyj und einen zum Mukomolnyj Pereulok in der Altstadt verzweigte. Diese wurden 2008 und 2009 stillgelegt. Seither führt die Straßenbahn Jaroslawl ein wenig ein Schattendasein, da weder der Hauptbahnhof noch die touristisch bedeutende Altstadt angebunden sind.
Ein idyllischer Abschnitt mitten in der Stadt befindet sich im Kutscherskoj Pereulok, wo am 22. Juli 2024 Wagen 19 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2006) in Richtung Uliza Tschkalowa unterwegs ist.
Wagen 186 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2007) am Ploschtschad Karla Marksa, 23. Juli 2024
Auf der Uliza Tschkalowa
Wagen 27 (71-619KT, Ust-Katawer Waggonbaufabrik 2006) auf der Uliza Tschkalowa, 23. Juli 2024
Das Viertel um die Uliza Tschkalowa wird wegen der hier verkehrenden Straßenbahnlinie 5 im Volksmund Pjatjorka genannt.
Bauarbeiten in Bragino
Wolgogradskaja Uliza, 22. Juli 2024
Im Nordabschnitt zum Krankenhaus Nr. 9 haben im Juli die Abbrucharbeiten begonnen.
Wolgogradskaja Uliza, 22. Juli 2024
Baustelle am Abzweig zur Uliza Bljuchera, 22. Juli 2024
Schon weit gediehen waren die Arbeiten im Juli an der Strecke zur Uliza Bljuchera.
Noch bis Anfang 2025 sind die alten Wagen des Typs 71-619KT mit ihren bunten Werbefolierungen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Bild der Jaroslawler Straßenbahn geprägt haben, unterwegs. Ich war von 2020 bis 2022 häufig in der Stadt, wobei mir die etwas abgehalfterte Tram sehr ans Herz gewachsen ist. Um so mehr bin ich froh, dass ich trotz aller Umstände im vergangenen Juli noch einmal dort war. Beim nächsten Besuch dürften dann schon die neuen Wagen in Betrieb sein.