In Sibiriens Kohlenpott 2/4: Nowokusnezk

Nowokusnezk, Oblast Kemerowo/Kusbass
Oktober 2020

Im zweiten Teil der Kusbass-Reise geht es nun zur Straßenbahn von Nowokusnezk. Das ist die zweite Metropole der Oblast Kemerowo, sie hat ein paar Einwohner mehr als die Hauptstadt und pflegt mit dieser ein typisches Rivalitätsverhältnis. Während Kemerowo durch Kohle und Chemie geprägt ist, ist Nowokusnezk ein Zentrum der Metallindustrie. Luftverschmutzung ist daher eines der zentralen Themen in der Stadt. Meine Vermieterin Schanna sagte, an manchen Tagen ziehe man besser keinen weißen Mantel an. Die Straßenbahn scheint hier lange etwas stiefmütterlicher behandelt worden zu sein als in Kemerowo. Noch in jüngerer Zeit wurden Strecken stillgelegt und der Zustand der Gleise ist nicht der beste. In diesem Jahr sind jedoch Sanierungsarbeiten angelaufen und es wurden sogar neue Fahrzeuge bestellt.

Die rund vierstündige Busfahrt mit „Kusbasspassaschirawtotrans“ von Kemerowo nach Nowokusnezk führte auf der Autobahn durch weitgehend flaches Land. Lange war nichts als Leere zu sehen, doch nach einer kurzen Pause im Niemandsland irgendwo in der Nähe von Kisseljowsk, tauchten hier und da Bergbauanlagen auf, Kohlezüge und Verladeanlagen waren zu sehen. Auf den letzten Kilometern veränderte sich die Landschaft und wurde hügeliger, fast schon vertraut. In der Abenddämmerung ging es vorbei an der Begrüßungsstele von Nowokusnezk.

Eines der architektonischen Highlights in Nowokusnezk: das einstige Kino Sibir

Am Platz vor dem Busbahnhof lief Musik aus Lautsprechern, Leuchtreklamen erhellten den trüben Abendhimmel. Die Stadt empfing mich auf sympathische Weise. Mit dem Trolleybus ging es zum Hotel am Rande der Innenstadt, ein Bierlokal mit einigen Zimmern in einem postsowjetischen Rundbau.

Geschrumpftes Straßenbahnnetz

Am nächsten Tag ging es dann gleich nach dem Frühstück los, das Straßenbahnnetz zu erkunden. Das ist nach diversen Stilllegungen recht übersichtlich geworden. In der Innenstadt gibt es zwei Streckenäste, einer endet bei der Haltestelle KMK, dem Kusnezker Metallurgiekombinat, der andere an der Transportnaja Uliza, etwa 500 Meter östlich des Bahnhofs. Bis 2019 bestand zwischen beiden Strecken eine Verbindung über den Bahnhofsvorplatz und den Prospekt Metallurgow. Eine weitere Verbindung über den Prospekt Kurako wurde schon 2015 abgebaut, 2016 folgte die Strecke vom der Schleife KMK zum Mikrobezirk Kujbyschewo im Westen.

Übrig geblieben sind also die beiden Innenstadtäste, welche sich auf dem Prospekt Druschby vereinen und von dort über die Kusnezkij-Brücke weit nach Nordosten hinaus führen. Unterwegs gabelt sich die Strecke noch einmal, um sich nach etwa dreieinhalb Kilometern wieder zu vereinen. Die Endhaltestelle liegt weit draußen bei der Christi-Geburt-Kirche und wird nur selten angefahren. Neben diesem Hauptnetz existiert noch die isolierte Linie 10 im Norden der Stadt im Sawodskij Rajon, zu der ich es leider nicht geschafft habe.

Der Fahrzeugpark in Nowokusnezk stammt fast durchweg von der Ust-Katawer Waggonbaufabrik. Eingesetzt werden hauptsächlich KTM-8, vereinzelt auch noch KTM-5. Dazu kommen einige KTM-19 und BKM 60102 von Belkommunmasch. Im Jahr 2020 wurden die ersten KTM-23 der neuesten Generation ausgeliefert. Dazu kommen mittlerweile zwei eigenartige Niederflur-Gelenkwagen des Typs 71-142.1 „Kusbass“. Diese wurden in St. Petersburg entwickelt und ebenfalls in Ust-Kataw gefertigt. Einer davon ist seit Februar 2021 im Testeinsatz.

Erkundung bei trübem Herbstwetter

Ich begann meine Erkundung an der Haltestelle KMK, wo es eine große Wendeschleife und ein Häuschen für das Personal gibt. Die Strecke in Richtung Kujbyschewo ist von hier aus noch ein Stück weit bis zum Depot Nr. 1 in Betrieb. Es war ein unglaublich trüber Morgen, die Wolkendecke hing schwer über der Stadt.

An der Haltestelle fiel mir ein interessanter Unterstand mit dreieckigem Dach ins Auge, am Häuschen hing ein Banner zum 85. Geburtstag der Nowokusnezker Straßebahn. Das war 2018. Als erstes begegnete mir ein KTM-19 im „300 Jahre Kusbass“-Outfit. Es folgte ein KTM-8 auf der Linie 2, in den ich einstieg, um zunächst den Außenast im Nordosten zu erkunden.

Unterwegs in den Mikrobezirk Bajdajewskij

Es ging zunächst durch die Innenstadt, vorbei an der City Mall und am ehemaligen Kino Sibir am Oktjabrskij Prospekt, dann über die Kusnezkij-Brücke auf die andere Seite des Tom. Dort folgt die Strecke zunächst schier ewig der Uliza Lenina, Bauten der Stalinzeit säumen die Straße. Nach einer Weile folgt die besagte Gabelung, die Linien 2 und 8 führen links um das Gelände einer Gießerei herum, die Linien 6 und 9 rechts. An der Haltestelle Uslowaja, kurz hinter der Wiedervereinigung der beiden Streckenäste, stieg ich erstmals aus.

Dort führt die Strecke ein Stück durchs Grüne. Nach ein paar Aufnahmen fuhr ich weiter durch den Mirkobezirk Nowobajdajewskij bis zur Endhaltestelle der Linien 2 und 9. Dort versanken die Gleise schon beinahe in einer Pfütze. Der folgende Abschnitt wird noch von den Linien 6 und 8 befahren, welche beide sehr selten unterwegs sind. Statt Massenwohnungsbau bestimmen hier Einfamilienhäuser die Szenerie.

Zwei KTM-19 erwischte ich auf dem Abschnitt, der von einem matschigen Fahrweg begleitet wird. Als der Regen wieder einsetzte, beschloss ich, mit dem zweiten von ihnen ein Stück zurück zu fahren und erstmal Pause zu machen. In einer netten Bäckerei in Nowobajdajewskij besorgte ich mir ein Vesper, im benachbarten Einkaufszentrum zudem neue Putztücher für das Objektiv.

Zurück in die Innenstadt

Nach der Stärkung fuhr ich zurück bis zur Gabelung der beiden Äste, wo eine hübsche Rohrbrücke die Gleise überspannt. Die KAMAZ-Werbung, die einst daran angebracht war (zu sehen auf Transphoto), war leider nicht mehr da. Beim Depot beobachtete ich einen weiteren KTM-8 beim Ausrücken, für einen Moment kam sogar die Sonne wieder raus.

Beim nächsten Zwischenstopp auf der Uliza Lenina war dagegen schon wieder alles grau in grau. Mein Wagen 301 von der Hinfahrt mit Fliesenwerbung kam gerade wieder vorbei.

Freundlicher wurde es für kurze Zeit, als ich auf dem Prospekt Druschby unterwegs war. Auch hier hatten sich teils riesige Pfützen gebildet. Nun schaute ich mir noch die Strecke zur Transportnaja Uliza an.

Dort traf ich an der Endstation auf einen der vier 60102 von Belkommunmasch, die einzigen Fahrzeuge der Nowokusnezker Straßenbahn, die nicht aus Ust-Kataw stammen.

Zum Abschluss ging ich den Oktjabrskij Prospekt entlang bis zur City Mall, also die Strecke, die ich am Morgen in entgegengesetzter Richtung befahren hatte. Auf dem Weg entstanden sowohl das Bild vom ehemaligen Kino Sibir als auch noch ein paar Aufnahmen von Straßenbahnen im trüben Abendlicht. Vom Einkaufszentrum aus nahm ich den Minibus zurück zum Hotel.

Scherereien im Hotel

Und dort begann ein unerwartetes Schlamassel. Ich könne nicht länger dort bleiben, meinte die Frau von der Rezeption. Mein Visum sei abgelaufen, sie würden übelst Ärger bekommen, wenn das ans Licht käme. Davon, dass während der Pandemie alle Visa per Dekret des Präsidenten verlängert wurden, hatte sie offenbar noch nichts gehört. Ein Verweis auf das entsprechende Dokument des auf der Website des Migrationsdiensts interessierte sie nicht weiter. Auch dass ich eine Registrierung aus dem Hotel in Kemerowo hatte, konnte sie nicht umstimmen. Gnädigerweise durfte ich die Nacht noch bleiben.

Mein eigentliches Ziel für den Abend war das Paulaner-Restaurant, doch zuvor wollte ich es noch in einem benachbarten Hotel versuchen. Ich schilderte die Situation, doch auch dort wollte man mir kein Zimmer geben. Es sei denn, ich würde selber zum Migrationsdienst gehen und das klären. Das war nun auch nicht gerade eine angenehme Vorstellung. Also erstmal ab zum Paulaner, wo ich bei Münchner Bier und Züricher Geschnetzeltem weiter überlegte.

AirBnB als Rettung

Zuerst rief ich bei dem gebuchten Hotel in Prokopjewsk an, wo ich zwei Tage später hin wollte. Dort war man sich nicht sicher und wollte sich am nächsten Tag nochmal melden. Also versuchte ich mein Glück bei AirBnB. Es gab tatsächlich ein paar Unterkünfte. Ich buchte die erstbeste und wartete.

Am nächsten Morgen stand das benachbarte Osinniki mit seiner Straßenbahn auf dem Programm. Ich durfte immerhin meinen Koffer im Hotel lassen. Als ich in der Elektritschka saß, kam die Stornierung meiner gebuchten Wohnung. Also die nächste ausprobiert. Und die war meine Rettung. Schanna, die Gastgeberin, antwortete noch bevor ich in Osinniki angekommen war. Welch eine Erleichterung. Die Fotos von diesem Tag kommen dann im nächsten Teil.

Als ich am Abend zurück in Nowokusnezk war, holte ich meinen Koffer im Hotel ab und fuhr zu der Wohnung, die recht zentral gelegen war. Um weiteres Theater zu vermeiden, blieb ich dort gleich bis zur Abreise zurück nach Kemerowo und stornierte das Hotel in Prokopjewsk. Dorthin kommt man mit dem Bus in einer knappen Stunde, das ließ sich also als Tagesausflug erledigen.

Zwei Fotos zum Abschied

Die folgenden Tage übernachtete ich also durchweg in Nowokusnezk, war aber tagsüber fast nur in Osinniki und Prokopjewsk unterwegs. Lediglich am Samstag, dem Abreisetag, kam ich noch einmal bei Tageslicht durch die Stadt.

Dabei entstanden noch zwei Aufnahmen auf der Uliza Ordschonikidse, als ich gerade vom Bahnhof zurück zu meiner Wohnung ging, um den Koffer abzuholen. Danach ging es wieder mit dem Bus nach Kemerowo, wo ich am nächsten Morgen beinahe den Rückflug verpasst hätte, nachdem ich mit einem Bergmann und einem Radiologen in einem Irish Pub versumpft bin.

In den nächsten beiden Teilen folgen dann die Straßenbahnbetriebe von Osinniki und Prokopjewsk.

Offizieller Netzplan (transphoto.org, veraltet)

Netzplan (trammaps.ru, veraltet)

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